Halt! Grenze!
Historische Wanderung zur Eisernen Hand am Basler Rheinknie
Die Wanderung zur Eisernen Hand nahe Basel bietet Eindrücke in ein dunkles Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Der Schweizer Landstreifen, der wie eine Hand in Deutschland hineinreicht, war damals nicht umzäunt und bot damit vielen Flüchtenden die Chance, der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen. Die Grenzwanderung führt vom Bahnhof Riehen den Gleisen entlang Lörrach zu. Flüchtlinge sprangen hier dereinst aus den Zugfenstern. Wurden sie erwischt, schickten die Zöllner sie zurück ins Verderben. Die Gedenkstätte im ehemaligen Bahnwärterhäuschen an der Inzlingerstrasse erinnert heute noch an sie. Über den Steingruben- und den Bischoffweg geht es hinauf zu den Schrebergärten Lerchengsang. Der Blick gleitet über das Wiesental, über Lörrach zur Burg Rötteln und die Hügelwellen des Schwarzwaldes. Kurz wieder auf dem markierten Wanderweg, wählt man bei der ersten Abbiegung die Abkürzung geradeaus über einen Feldweg zum Maienbühlhof, wo damals viele Flüchtende aufgenommen wurden. Hinter dem Hof geht der Weg weiter, am Waldrand beim Grenzstein Nr. 74 fädelt man rechts in den unmarkierten Pfad ein, der den Grenzsteinen folgt. Bei Nr. 64 verlässt man rechts die Spitze der Eisernen Hand und damit die Schweiz. Der Waldweg führt nach Inzlingen. Nun wandert man ein längeres Stück auf Asphalt. Man quert über die Sonnhalde das Dorf und gelangt zum Wasserschloss mit dem hübschen Park. Von hier geht es auf dem Planetenweg und immer den gelben Rhomben nach bergauf, bald über die Grenze und panoramareich am Restaurant Waldrain vorbei zur Chrischonakirche. Zurück an der Grenze wandert man rechts durch den urwüchsigen Wyhlengraben. Gelbe Rhomben leiten zu den Ruschbachfällen. Sie sind klein und doch schön, weil der wasserlösliche Kalk Sinterterrassen bildet. Dem Bächlein entlang geht es durch das Ruschbachtal nach Wyhlen, wo der Bus nach Basel fährt.
Die grüne Grenze zwischen Riehen, Bettingen und Grenzach-Wyhlen lädt heute zum friedlichen Wandern ein. Doch in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg hat sich dort Erschütterndes zugetragen. Das aber erfahre ich erst als Erwachsene. Als Kinder haben wir im Grenzwald gespielt, als Jugendliche Geheimbünde geschworen, heimlich geraucht oder Verehrer getroffen. Ahnungslos, während in der Schule ganz nach Lehrplan die Nazizeit durchgekaut wurde. Abstrakt, weit weg. Dabei zog sich im Krieg für Jahre ein gewaltiger Stacheldrahtverhau durch unseren Wald, spielten sich Schicksale vor der Haustür ab. Das hatten die Pauker nicht erwähnt. Und auch ausserhalb des Lehrplans wird nicht gerne über diese Zeit gesprochen. Man übt sich in der Kunst der Verdrängung: «Das isch doch scho so lang her.» Oder der Schuldabweisung: «Andri hänn au schlimmi Sache gmacht.»
Glocken rufen zur Freiheit
Fluchtwege, das Thema könnte nicht aktueller sein. An einem Herbsttag pirsche ich der Eisernen Hand entlang. Aus dem Nichts tönt das helle Glockengeläut der Chrischonakirche. Für die Kriegsflüchtlinge der Nazizeit bedeutete es Freiheit. Doch wenn sie das Gelände nicht kannten, konnten sie hier schnell die Sicherheit der Schweiz verpassen.
Verwirrend ist die Konstellation in Riehen, dem Ausgangspunkt meiner Wanderung. Ein Schweizer Dorf, doch der Schienenstrang gehört der Deutschen Bahn. Die Züge wiederum werden von der SBB betrieben. Die Wiesentalbahn ist seit 2003 als S6 ins Regio-S-Bahn-Netz von Basel eingebunden. Sie bringt deutsche Studierende zur Basler Uni oder Schweizerinnen und Schweizer zum Markt nach Lörrach. Ganz ohne Kontrolle.
Die Vögel zwitschern Frieden von den Bäumen, und das Erinnern macht ihn noch wertvoller. Es waren schicksalsträchtige Gleise dazumal. Flüchtlinge sprangen aus den Zugfenstern in die rettende Schweiz oder wurden von Zöllnern entdeckt und wieder zurückgebracht, zurück ins Verderben.
Im ehemaligen Bahnwärterhäuschen der Deutschen Reichsbahn an der Inzlingerstrasse in Riehen befindet sich seit 2011 eine Gedenkstätte für die Flüchtlinge. Mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 begann der Terror gegen Andersdenkende. Im Fokus standen vor allem die politische Opposition und die Juden. Bücherverbrennung, Schreib- und Lehrverbote, Boykott gegen jüdische Geschäfte, Enteignungen, Zwangssterilisation – die Verbrechen häuften sich. Und damit die Fluchtversuche über die Grenze in die rettende Schweiz. Doch nur mit viel Glück gelang das einigen wenigen. Man vermutet 35 000 Abgewiesene, doch die Dunkelziffer wird möglicherweise höher sein. Akten über Ausweisungen fehlen, obwohl doch sonst immer alles gewissenhaft protokolliert wird. Dieser Vernichtungs- und Verfolgungspolitik möchte die Gedenkstätte ein Mahnmal setzen.
Das gefährliche Nadelöhr
Fatal der Sommer 1942, als die Nationalsozialisten begannen, den Grenzverlauf auf deutscher Seite mit Stacheldraht abzuriegeln. Der acht Meter breite und drei Meter hohe Stacheldrahtverhau zog sich auf 18 Kilometern Länge von Kleinhüningen bis zum Grenzacher Horn. Doch es gab eine Lücke: die sogenannte Eiserne Hand, wie sich der Schweizer Geländestreifen am Maienbühlhof nennt, der wie ein knorriger Finger in deutsches Gebiet zeigt.
Weil sich die deutschen Behörden die mühsame Umzäunung der teilweise nur hundert Meter breiten und etwa zwei Kilometer langen Eisernen Hand sparen wollten, stellten sie ein Gesuch an die Eidgenossen, mit der Legung des Stacheldrahts über das kurze Stück Schweizer Boden die Eiserne Hand abtrennen zu dürfen. Doch die Schweiz blieb eisern. Das Gesuch wurde abgewiesen und die Stelle ohne Abriegelung belassen. Die Flüchtlinge nutzten das Nadelöhr, unter höchster Gefahr aber, war die Lücke doch besonders stark und mit gefürchteten Hundepatrouillen bewacht.
Erste und letzte Station
Keine einfache Lage hatte der Maienbühlhof, den ich nach einem aussichtsreichen Aufstieg von Riehen her erreiche. Der Hof liegt auf zwei Seiten nur wenige Meter von der Landesgrenze entfernt. Sperrzone. Betreten nur mit Sonderausweis möglich. «Fast täglich kamen Flüchtlinge», erzählt Marie Schmutz-Rüegsegger im gleichnamigen Buch, das sich Zeitzeugen-Interviews widmet und auch in der Gedenkstätte für Flüchtlinge aufliegt. Die Bäuerin, die den Hof in jener Zeit führte, verpflegte die Verfolgten mit Milch und Brot. «Gezwungenermassen musste ich dann jeweils der Polizei oder dem Zoll telefonieren, welche die Flüchtlinge hier abholten. Auch die Grenzwächter brachten Überläufer, die sie im Wald aufgegriffen hatten, zu uns ins Haus, um von hier aus auf den Posten zu telefonieren. Aber – es ist furchtbar – am Abend wurden viele Flüchtlinge wieder an die Grenze gestellt. Das habe ich lange nicht gewusst. Ich nahm an, dass sie in der Schweiz in Internierungslager kämen.»
Die späteren Vorwürfe, dass man mehr hätte helfen können, haben Marie Schmutz-Rüegsegger nach den Zeitzeugen-Interviews sehr mitgenommen, sagt ihr Sohn heute. Ich treffe ihn auf meinem Grenzbummel, als er gerade die Hühner versorgt. Und er fügt bei: «In Sicherheit und satt, ohne die Kriegssituation selbst erlebt zu haben, ist es leicht zu urteilen.»
Verschlungene Zöllnerpfade
Am Maienbühlhof steht eine Tafel, die Aufschluss über den Verlauf der Eisernen Hand gibt. Kühe muhen, Schweine grunzen, Hühner gackern – heute wie damals. Im Herbst stehen die vielen Obstbäume im bunten Farbenkleid, und der Blick schweift über saftige Wiesen nach Basel und zu den Jurahöhen. Ich folge den Grenzsteinen, ein jeder nummeriert. Bei Grenzstein Nr. 73 wird der Feldweg zum schmalen Pfad, auf dem die Zöllner dereinst durch das Unterholz pirschten. Gespenstisch knackt es im Herrenwald. Dann wieder Totenstille. Bei Nr. 68 ein Baum, der dabei ist, das Schild «Halt Grenze!» zu verschlingen. Als wolle er uns Menschen darauf aufmerksam machen, dass wir diese doch gar nicht brauchen.
Geradeaus geht es weiter den Grenzsteinen nach bis zu einer Schranke. Dort markiert Nr. 64 das Ende der Eisernen Hand. Ein Dreibannstein, wie die Linien verraten, wo die Gebiete der Herren von Schönau, von Reichenstein und von Basel zusammenstiessen. Hier soll über viele Jahre ein Wegweiser gehangen haben mit dem alten Herrschaftssymbol des bischöflichen oder markgräflichen Landesherrn, einem Handschuh. Daher der Name Eiserne Hand, vermuten Historiker.
Kuchen und Dankbarkeit
Ein Waldweg führt mich von der Eisernen Hand in das idyllisch in einer Talfalte gelegene Inzlingen. Von dort steigt der Weg kräftig zur Chrischona an. Die Flüchtlinge von damals hatten keine Musse, den Blick auf das deutsche Dorf und sein schmuckes Wasserschloss zu geniessen. Über dem Kopf schiesst der Chrischonaturm in den Himmel. Erst ganz oben auf dem Höhenrücken des Dinkelbergs taucht die Chrischonakirche auf, zu der Wegweiser leiten. 1940 hatte man alle Schilder entfernt, um den Flüchtlingen die Orientierung in die Schweiz zu erschweren.
Ich passiere die Schranke am Landesgrenzstein Nr. 100, ein neueres Modell des ehemaligen Roten Bannsteins. Blutstein oder Schwedenstein hatte man ihn auch genannt, weil die Schweden während des Dreissigjährigen Kriegs an ihm ihre blutigen Schwerter gewetzt haben sollen.
Auf dem beliebten Spazierweg zwischen Chrischona und Rührberg kümmert dies heute niemanden. Eher die Frage um Kaffee und Kuchen im Restaurant Waldrain gleich hinter dem Chrischonaturm, wo man auf der Terrasse bei Alpenpanorama grossartig sitzen kann.
Die Glocken der Chrischonakirche schlagen ganz nah das Lied der Freiheit. Und ich bin dankbar, dass ich in Freiheit aufwachsen durfte: Und es wird mir nach dieser Tour umso mehr bewusst, wie wichtig es ist, sich dafür einzusetzen, dass das auch so bleibt.
Tipp
An der herrschaftlichen Villa in Alleinlage kam früher kein Chrischona-Ausflügler vorbei, über den pragmatischen Selfservice-Betrieb sah man hinweg, machten doch Lage und Aussichtsterrasse alles wett. Nun hat das Restaurant Waldrain mit Nadja Hoffer neuen Auftrieb bekommen. Nicht nur das Interieur zeigt sich geschmackvoll, auch der Gaumen wird ungemein verwöhnt. Im Angebot stehen saisonal wechselnde Gerichte sowie österreichische Spezialitäten, welche die engagierte Gastronomin von ihrer steirischen Grossmutter beigebracht bekam.