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Portraits

«Beim Kältewandern lernt man, ruhig und konzentriert zu bleiben.»

Eisbaden erfreut sich seit der Pandemie zunehmender Beliebtheit. Als Alternative dazu organisiert Gerda Imhof Winterwanderungen in leichtem Tenue und nimmt uns mit auf ein erfrischendes Erlebnis oberhalb von Lungern OW.
30.10.2025 • Text: Patricia Michaud, Fotos: Markus Ruff
Gerda Imhof (rechts) führt Autorin Patricia Michaud in die Kunst des Kältewanderns ein. Im Hintergrund die Obwaldner Alpen.

Das Seltsamste an der Situation ist wider Erwarten nicht, dass ich im Strandoutfit auf über 1500 Metern im Schnee stehe. Deutlich mehr irritiert mich gerade, dass ich mitten im Winter dabei bin, mir Arme, Bauch und Oberschenkel mit Lichtschutzfaktor 30 einzuschmieren. Dabei will ich mich gar nicht beschweren, dass uns an diesem Morgen Anfang Februar die Sonne ihre Aufwartung macht. Gestern Abend waren die Wetterprognosen noch wenig berauschend, und ich fragte mich beim Einschlafen, was mich bloss geritten hatte, diesen Auftrag für DAS WANDERN anzunehmen. Doch dank den sanften, sich auf der weissen Schneedecke spiegelnden Sonnenstrahlen ist mir – zumindest vorerst – noch recht warm.

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Ungewohnt, im Winter den ganzen Körper mit Sonnencreme einzuschmieren.

Gerda Imhof lächelt mir aufmunternd zu. Los gehts! Mit den Schneeschuhen hinten am Rucksack lassen wir zügigen Schrittes – weshalb, dürfte klar sein – die Bergstation der Seilbahn in Turren hinter uns. Als Fotograf Markus Ruff sein Objektiv auf mich richtet, strecke ich ihm die Zunge heraus. Mit der Ausrede, mit zitternden Händen könnten seine Aufnahmen verwackeln, hat Markus seine kuschligen Wintersachen schön anbehalten.

Gerda Imhof, was steckt hinter der Idee, leicht bekleidet durch den Schnee zu wandern?

Das Marschieren durch den Schnee – oder zumindest bei ziemlich niedrigen Temperaturen – in Shorts oder sogar nur in Badesachen ist eine Art des Kältetrainings. Ziel ist es nicht nur, das «Ertragen» der extremen Bedingungen zu lernen, sondern vielmehr, gezielt vom Nutzen der Kälteexposition für Körper und Geist zu profitieren.

Und worin besteht dieser Nutzen?

Leute, die sich regelmässig wandernd der Kälte aussetzen, berichten von zahlreichen positiven Effekten. Am häufigsten genannt werden die Stärkung des Immunsystems, die Anregung der Blutzirkulation, die Erhöhung der Widerstandskraft und die Hebung der Stimmung. Ausserdem wird die Fettverbrennung des Körpers angekurbelt.

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Beim Kältewandern geht es nicht um einen Wettkampf, sondern um Achtsamkeit.

Was unterscheidet diese Aktivität vom Eisbaden?

Das Eisbaden stellt eine extreme, aber kurze Form der Kälteexposition dar. Beim Schneewandern in leichtem Tenue ist diese Exposition weniger heftig, dauert aber viel länger. Die Herausforderung – sowohl mental als auch körperlich – besteht denn auch darin, die Kälte während längerer Zeit, manchmal über Stunden hinweg, auszuhalten. Dabei lernt man, ruhig und konzentriert zu bleiben.

Seit der Coronakrise erleben Aktivitäten, bei denen man sich auf die eine oder andere Weise der Kälte aussetzt, einen wahren Boom – ob Winterschwimmen, Eisbaden, als Kryotherapie oder mit der Wim-Hof-Methode. Wie erklärt sich diese Entwicklung?

Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hatte die Pandemie uns alle mit dem Thema des Krankwerdens konfrontiert, und die Stärkung des Immunsystems wurde vielen Menschen ein Anliegen. Ausserdem führte der Lockdown dazu, dass die Leute die Natur wiederentdeckten und mehr draussen unterwegs waren. Eine Rolle spielen dürfte auch die zunehmende Beschleunigung unserer Gesellschaft, insbesondere in der Arbeitswelt. Wie Yoga oder Meditation kann auch Kälteexposition dabei helfen, sich zu zentrieren, mehr im Hier und Jetzt zu sein und sich nicht komplett von der Hektik des Alltags mitreissen zu lassen.

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Die Obwaldner Sonne wärmt entschieden mehr, als ich erwartet hatte. Als wir nach einer knappen Stunde im Eilschritt bei einer Gruppe von – zu dieser Jahreszeit verlassenen – Alphütten ankommen, flankiert von einer hübschen Kapelle, ist mir fast gar nicht kalt. Markus Ruff hat derweil immerhin seine Daunenjacke ausgezogen. Dass ich nur Shorts und einen Sport-BH trage, ist mir mittlerweile kaum noch bewusst. Nur die teils neugierigen, teils belustigten Blicke der Wandernden, die unseren Weg kreuzen, erinnern Gerda Imhof und mich daran, dass unser Outfit alles andere als saisongerecht ist.

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Die Kältewanderinnen ernten an diesem Tag den einen oder anderen überraschten Blick.

Bislang ist unser Abenteuer so problemlos verlaufen, dass ich fast schon etwas euphorisch werde. Doch dann folgt ein schattiger Abschnitt, auf dem auch noch ein leichter Wind weht. Schlagartig hat mich die Realität wieder: Die Temperatur bewegt sich um den Gefrierpunkt, und ich weiss nichts Besseres, als mit entblössten Gliedmassen durch die Gegend zu spazieren? Ich bin mit Hühnerhaut übersät, und auf Gerdas Armen machen sich rötliche Flecken breit. Wir beschleunigen unseren Schritt.

Seit wann interessierst du dich für Kälteaktivitäten?

Als Kind verbrachte ich die Ferien regelmässig bei meinen Grosseltern in Deutschland. Mein Grossvater machte jeden Morgen zuerst Yoga und danach kalte Wassergüsse nach der Kneipp-Methode, beginnend mit Armen und Beinen. Mit der Zeit übernahm ich sein Ritual und halte bis heute daran fest. 2009 machte ich dann Yoga zu meinem Beruf und unterrichte es seither. Mit Kälteexposition im eigentlichen Sinn kam ich 2017 erstmals in Kontakt, als ich – aus einer Laune heraus – an einem einwöchigen Workshop in Polen teilnahm, geleitet unter anderem von Wim Hof.

Der «Iceman», wie der Niederländer auch genannt wird, ist weltbekannt für seine extremen Stunts – so harrte er zum Beispiel über eine Stunde lang in einem bis zum Rand mit Eiswürfeln gefüllten Behälter aus. Ist er ein Vorbild für dich?

Um ehrlich zu sein, bin ich keine grosse Anhängerin allzu starrer Methoden, wie derjenigen von Wim Hof. Meine Praxis der Kälteexposition, wie ich sie auch meinen Klientinnen und Klienten anbiete, hat einen flexibleren und individuell abgestimmten Ansatz. Nichtsdestotrotz öffnete die Teilnahme am erwähnten Seminar eine Türe in meinem Leben und machte mir Lust darauf, mich privat und beruflich mit dem Thema Kälte auseinanderzusetzen, ergänzend zu Yoga, Massagen oder Meditation. In der Folge gründete ich 2018 eine Winterschwimmgruppe in Luzern, aus der 2024 der Verein «The WinterSwimmers» wurde. Immer wieder im Austausch stehe ich auch mit dem Kältenetzwerk Brunnen. Dieses will der Öffentlichkeit die Vorteile der Kälteexposition in all ihren Formen – wie Winterwandern in leichtem Tenue – näherbringen und informiert dabei auch über Sicherheitsaspekte.

««Wie Yoga oder Meditation kann auch Kälteexposition dabei helfen, sich zu zentrieren, mehr im Hier und Jetzt zu sein.»»

Gerda Imhof

Stichwort Sicherheit: Welches sind die goldenen Regeln der Kälteexposition?

Das wichtigste Gebot ist bei allen Formen des Kältetrainings dasselbe: Achtsamkeit. Auf keinen Fall sollte man die Signale von Kopf und Körper ignorieren. Wenn ich so eine Wanderung wie heute organisiere, rate ich den Teilnehmenden immer, zuoberst in den Rucksack warme Kleider zu packen und diese bei Bedarf auch sofort anzuziehen. Es ist kein Wettkampf, bei dem es darum geht, möglichst lange und möglichst spärlich bekleidet der Kälte zu trotzen. Sinn und Zweck der Sache ist es vielmehr, sein geistiges und körperliches Wohlbefinden zu steigern.

Als wir am Ziel unserer Wanderung ankommen, dem Bärghuis Schönbüel auf gut 2000 Metern, bin ich nicht unglücklich, dass Gerda Imhof drinnen reserviert hat. Obwohl es weitgehend sonnig geblieben ist, haben unsere Körper allmählich genug von der Kälte, was sich in grosser Müdigkeit und einem Bärenhunger äussert. Eingemummelt in dicke Kapuzenpullis, verschlingen wir unsere Älplermagronen. Wir sind so beschäftigt, uns zu stärken, dass wir kaum bemerken, wie die anderen Gäste verwundert unsere immer noch nackten Beine mustern.

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Ein sonniger Abstieg in Schneeschuhen und kurzen Hosen.

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Zur Person

Gerda Imhof ist 37-jährig und lebt in Luzern. Als Kind interessierte sie sich für Medizin und studierte später Anthropologie an der Universität Bern, bevor sie Yogalehrerin, Masseurin und Coach wurde. Wenn sie nicht gerade in kaltem Wasser badet oder singt, ist sie gerne auf den Walliser und Tessiner Wanderwegen unterwegs.

gerdaimhof.ch

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    Zentralschweiz Magazin DAS WANDERN

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