«viator nervos alcis vexare» – eine Safari der besonderen Art

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08.09.2022 • evelynewandert

«viator nervos alcis vexare» – eine Safari der besonderen Art

Auf Wanderungen gibt es nicht nur Flora und Fauna zu bestaunen, sondern auch die seltsamen Wesen der Gattung «viator nervos alcis vexare», des «gemeinen nervtötenden Wanderers». Die Systematik unterscheidet Unterarten. Regelmässig anzutreffen sind Gadgetfreaks, Stadtmenschen (Weibchen und Männchen), Kampfwandernde sowie die Königinnen der Berge. Eine faszinierende Exkursion ins Reich der immer facettenreicher werdenden Wanderwelt.

Der Ausrüstungs-Freak (fanaticus armatura)
Es ist WWW, WunderWanderWetter. Nichts wie los, aber selbstverständlich nur mit den topmodernsten Gadgets. Atmungsaktive wind-, regen-, UV-Strahlen- und insektenabweisende Stöffchen umhüllen den unterdurchschnittlich trainierten Körper, und ultraleichte Hochleistungstreter vollenden die Ausrüstung in Perfektion. Seine bergsportlichen Defizite kaschiert er gekonnt mit allerlei technischen Hilfsmitteln, und seine Herz- sowie Hirnfrequenz werden ebenso aufgezeichnet wie die vollbrachte Wanderleistung. Wenn er zu Hause ist, finden sich sämtliche Daten längst zu statistischen Meisterwerken aufbereitet in all seinen Mobile Devices.
Bestand: verbreitet, wachsend.

Die Königin der Berge (regina montis)
Die Berge sind zum Fotografieren da – als Kulisse, denn der Star ist sie. Karierte Hemden, Zip-off-Hose und klobige Wanderschuhe? In solch bünzligem Outfit aus Urgrossvaters Zeiten lassen sich unmöglich die nächsten 1000 Followers gewinnen. Ihre Fans erwarten Glam, Sex Appeal und (Styling-)Inspiration. In weissen Designer-Sneakers und figurbetonten Sommerkleidern aus der neusten High-Fashion-Kollektion ist die Strahlkraft noch grösser als diejenige vom Planggenstock-Bergkristall. Elegant und grazil wie eine Gazelle bewegt sie sich zu Hidden Places, immer darauf bedacht, das perfekte Make-up nicht mit lästigem Schwitzen zu ruinieren.
Bestand: invasiv.

Der Stadtmensch, Männchen (homo urbanus, masculus)
Der Berg ruft, und der Party-Proll ruft mit seinen Kumpels noch lauter zurück. Er hat sich zuvor mit nacktem Oberkörper 200 Höhenmeter hoch gequält. So ein Gipfelsieg ist ein wahrer Stimmungsaufheller und will entsprechend gefeiert werden. Etwas Hochprozentiges zum Anstossen haben sie natürlich selbst dabei. Ihre gute Laune ist ansteckend, und wer da zu den Beats aus der Boombox nicht mitgroovt, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Der männliche Stadtmensch wird regelmässig in Begleitung des Müllphantoms gesichtet. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es mit Vorliebe Plastikbeutel, Coladosen, Bierflaschen und Chipstüten unter Steinmännchen liegen lässt.
Bestand: potenziell gefährdet.

Der Hotelgast in der Hütte (deversor ex deversorium)
Schon der Aufstieg zur Hütte war eine Zumutung: der Weg steil, mit Steinen durchsetzt, unterwegs keine Sitzbänke zum Ausruhen, von schattenspendenden Bäumen nur zu träumen. Und jetzt das: In der WC-Anlage stinkt es grauenhaft, es gibt keine Duschen, von Handyladestationen ganz zu schweigen, das Bier ist lauwarm und sauteuer, im – höhö – «Restaurant» werden die Plätze an Gruppentischen zugewiesen, beim Menu gibt es keine Wahl, das Essen muss man selbst schöpfen und aus einem Teller essen, und das Zimmer wird mit sieben (!) wildfremden Leuten geteilt. Eine bodenlose Frechheit, und für so unterirdisch wenig Komfort soll er auch noch so viel bezahlen! Nach einer ermüdenden Wanderung hat er sich schliesslich kulinarisch auf etwas Bodenständiges gefreut: Eine kleine Foie Gras zum Starten und danach ein getrüffeltes Kalbssteak – oder doch lieber eine Languste? Ein wenig Spielraum hätte er dem Koch dann doch gelassen.
Bestand: verbreitet, wachsend.

Der Kampfwanderer (viator pugna)
Sein Credo: Alles unter 5 Stunden Marschzeit ist ein Spaziergang, und für weniger als 1000 Aufstiegsmeter schnürt er sich gar nicht erst die Bergschuhe. Er kennt die umliegenden Gipfel mit Vor- und Nachnamen, nennt die Hüttenwarte beim Spitznamen und weiss haargenau, wann er welche Tour in welcher Zeit erledigt hat. Vorwanderer sind ihm ein Dorn im Auge und Aufforderung zu einem unverzüglichen Überholmanöver, sei das Gelände noch so unwegsam. Auf andere Nutzniesser der Wanderwege reagiert er hyperallergisch. Die Wanderwege gehören allein den echten Wandernden, das steht so im Fuss- und Wanderweggesetz, in der Strassenverkehrsordnung und grundsätzlich in der moralischen Pflicht eines jeden Menschen, der sich wagt, die Wanderwege zweckentfremdend zu benützen. Den Mountainbikenden stellt er sich unerschrocken in den Weg, bereit im heldenhaften Kampf um Recht und Ehre zu sterben.
Bestand: stark gefährdet (Rote Liste CH).

Die Blümchenflüsterin (susurrata flosculus)
Sie ist eins mit sich, dem Schöpfer und dem Kosmos. Mit unendlich viel Zuneigung begrüsst sie unterwegs alle Pflänzchen, ergötzt sich ob all den prächtigen, einzigartigen Steinchen und schöpft Kraft aus jedem noch so kleinen Rinnsal und Pfützchen. In ihrer Rolle als Kuhflüsterin geht sie vollkommen auf; sachte streichelnd schafft sie es im äussersten Notfall mühelos, die viel bescholtenen sanftmütigen Mutterkühe dazu zu bewegen, einen Schritt zur Seite zu gehen, damit sie an ihnen vorbeischweben kann, aber natürlich nur dann, wenn der Bergfrieden dadurch in keinster Weise ins Ruckeln kommt. Beseelt von dieser unvergesslichen Begegnung zieht sie von dannen, stets darauf bedacht, sorgfältig einen Fuss vor den anderen zu setzen, um keinem Insekt aus Unachtsamkeit das Leben zu nehmen.
Bestand: verbreitet.

(Titelbild: Tartarin de Tarascon aus Alphonse Daudets gleichnamigem Roman)

Hüttenwanderin

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